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Ausstellung
Verdrängung, Enteignung, Neuanfang:
Familienunternehmen in Ostdeutschland von 1945 bis heute

 

Was es für eine Volkswirtschaft bedeutet, wenn die oft über Generationen gewachsenen Familienunternehmen verdrängt oder enteignet werden, lässt sich am Beispiel der DDR lernen. Mit der von der SED-Führung initiierten Diskriminierung des Privateigentums, bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung von Unternehmern und schlussendlich der vollständigen Verstaatlichung industrieller Familienunternehmen im Jahr 1972, wurde ein nachhaltiger wirtschaftlicher Schaden angerichtet. mehr lesen arrow_forward

Walter Ulbricht 1966 bei einem Treffen mit 50 Komplementären zum zehnten Jahrestag des Bestehens der Betriebe mit staatlicher Beteiligung, © ddrbildarchiv.de/Leon Schmidtke
  • 1945-1955
    Entwicklungen der Nachkriegsjahre: Demontagen, erste Verstaatlichungswelle und Firmenabwanderung
  • 1956-1971
    Unter Anpassungsdruck: Familienbetriebe und Staatsbeteiligung
  • 1972-1989
    Komplette Verstaatlichung: Vernichtung des industriellen Mittelstands
  • ab 1990
    Reprivatisierung: Re-Etablierung von Familienunternehmen in Ostdeutschland
1945-1955
Entwicklungen der Nachkriegsjahre: Demontagen, erste Verstaatlichungswelle und Firmenabwanderung
1956-1971
Unter Anpassungsdruck: Familienbetriebe und Staatsbeteiligung
1972-1989
Komplette Verstaatlichung: Vernichtung des industriellen Mittelstands
ab 1990
Reprivatisierung: Re-Etablierung von Familienunternehmen in Ostdeutschland

1945-1955
Entwicklungen der Nachkriegsjahre

Demontagen, erste Verstaatlichungswelle und Firmenabwanderung

In den ersten Nachkriegsjahren findet auf der Grundlage von Befehlen der Besatzungsmacht eine tiefgreifende Umwälzung der Eigentumsverhältnisse in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) statt. 2.500 Familienunternehmen sind von Demontagen betroffen und eine noch weit größere Zahl wird enteignet. Die von der Besatzungsmacht initiierten und von den SED geführten Ländern umgesetzten Enteignungsmaßnahmen verschaffen dem Staatssektor in der Industrie bereits 1948 eine beherrschende Stellung.

Zehntausende Firmen reagieren auf die grundstürzenden Veränderungen mit der Verlegung ihrer Firmensitze in die Westzonen. Mit ihnen verschwindet das für den Wiederaufbau wertvollste Kapital: Unternehmer und hochqualifizierte Mitarbeiter sowie ihr Know-how und viele weltbekannte Marken und Namen.

Nach der Gründung der DDR geht der Prozess der Verdrängung von privaten Unternehmen mit Mitteln des Steuer- und Strafrechts weiter. Anfang der 1950er Jahre verfügen Familienunternehmen nur noch in einigen Branchen der Leicht- und Konsumgüterindustrie über ein volkswirtschaftlich nennenswertes Gewicht. Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 lockert die SED ihren Griff auf die Privatindustrie, hält aber an ihrem absoluten Herrschaftsanspruch fest und stellt das Ziel der vollständigen Verstaatlichung nur aus taktischen Gründen zurück.

Plakate zum Volksentscheid 1946; Haus der Geschichte, Bonn | Grafik: Boehner Werbung, Dresden (li.), Horst Naumann (re.)
Beim Volksentscheid in Sachsen stimmen am 30. Juni 1946 rund 78 Prozent der Abstimmungsberechtigten für das Gesetz zur entschädigungslosen Enteignung der „Nazi- und Kriegsverbrecher“. Außerhalb Sachsens wird ohne Volksentscheid enteignet. Die Gesetze und Verordnungen dienen nicht nur der Abrechnung mit dem Nationalsozialismus, sondern auch gleichzeitig der Durchsetzung des kommunistischen Führungsanspruchs. Umfangreiche Enteignungen schwächen den Privatsektor, ohne ihn schon vollends zu zerstören.

Felix Schoeller & Bausch Papierfabrik OHG, Neu Kaliß

1871 gründet Theodor Bausch eine Papierfabrik im mecklenburgischen Neu Kaliß. Bis 1940 wächst die Belegschaft auf 800 Mitarbeiter. Mit ca. 50 Sorten feinster Papiere ist sie im Inland sowie im Export erfolgreich. Im März 1946 erlässt die Sowjetische Militäradministration (SMAD) den Befehl zur Totaldemontage der völlig intakten Fabrik. Etwa 3.000 Demontagearbeiter, zwangsverpflichtete Deutsche und sowjetische Strafbataillone, werden eingesetzt. Die Hallen stehen leer, aber die Neu Kalißer erwirken einen „Wiederaufbaubefehl“ bei der SMAD. Bis 1949 baut die Belegschaft unter der Leitung von Viktor Bausch aus alten Teilen eine neue Papiermaschine. Erst danach wird das Unternehmen unter fadenscheinigen Gründen enteignet. Viktor Bausch flüchtet 1950 nach West-Berlin und gründet eine neue Firma. Sein Sohn erhält in den 1990ern die Villen der Familie zurück, das Unternehmen jedoch nicht.
Luftaufnahme der Papierfabrik Felix Schoeller & Bausch, 1936
Unternehmer Viktor Bausch, 1938

Die Enteignungsurkunde, bereits datiert auf den 30.11.1948, wird bewusst zurückgehalten und nie zugestellt, um den Wiederaufbau des Betriebs durch Viktor Bausch nicht zu stoppen.

Bilder und Dokumente aus dem Privatarchiv von Dr. Dr. Thomas Bausch

Die Papiermaschine „Phönix“ wird unter abenteuerlichen Bedingungen aus alten, aus ganz Deutschland herangeschafften Maschinenteilen aufgebaut. Sie läuft am 25.11.1949 an und produziert bis 1992.

C. T. Hünlich Weinbrennerei GmbH, Wilthen

Es wird verurteilt: Der Angeklagte Christian Traugott Hünlich wegen Verbrechens gegen Befehl 160 der SMAD und Verbrechens gegen § 1 Abs. 1 Ziff. 2 der WStrVO zu einer Gesamtstrafe von 8 Jahren Zuchthaus und Einziehung des Vermögens.
Urteil gegen den Inhaber der C. T. Hünlich Weinbrennerei (1951), nach Wirtschaftsstrafverordnung und SMAD-Befehl Nr. 160
Das Unternehmen der Familie Hünlich, seit 1885 eine Cognacbrennerei, ist der größte sächsische Spirituosenbetrieb. Dr. Christan Hünlich übernimmt 1931 die alleinige Firmenleitung. Den Krieg übersteht der Betrieb unbeschadet. Bereits kurz nach dem Eintreffen der sowjetischen Armee wird die Spirituosenproduktion im Mai 1945 wieder aufgenommen, zuerst für die Besatzungstruppen, im November auch für die Bevölkerung. Die Firma entgeht 1948 noch der Enteignung, da sie nicht in der Kriegsrüstung tätig war und Hünlich nicht der NSDAP angehörte.

Ausweis für Dr. Christian Hünlich nach Kriegsende

Historische Bilder zur Firmengeschichte aus dem Archiv der Stadt Wilthen

Die Belegschaft begrüßt 1949 den ersten Kesselwagen mit Brennwein aus Ungarn. Die Mitarbeiter der Hünlichs leiden in den Nachkriegsjahren nicht unter Hunger. Sie erhalten Spirituosen als Lohn, die sich gut gegen Lebensmittel tauschen lassen. Der Werbe-Slogan auf dem Kesselwagen demonstriert den Zusammenhalt der Belegschaft. Doch nur zwei Jahre später wird das Familienunternehmen enteignet.

Am 23. September 1948 wird eine Wirtschaftsstrafverordnung erlassen. Diese stellt es in das Ermessen der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK), alle Verstöße gegen ihre Anordnungen, wie nicht genehmigte Tauschgeschäfte, als Verletzung geltender Gesetze zu werten. Private Betriebsvermögen werden nach der Verurteilung automatisch entzogen.
Mit diesem Schreiben bestätigt der ehemalige sächsische Finanzminister Gerhard Rohner, der 1950 nach Düsseldorf geflohen war, dass die Verkaufsbeschränkung von Spirituosen in Sachsen bereits im November 1945 aufgehoben worden war. Die Firma Hünlich hatte somit nicht gegen geltende Gesetze verstoßen.
Eine von Hünlich nicht gemeldete Beteiligung der Familie Rückforth in Höhe von 76 Prozent an seiner Weinbrennerei wird seinem Unternehmen zum Verhängnis. Die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle sieht darin eine Konzernbindung an die Rückforth AG und damit eine Vermögensverschleierung. Christian Hünlich flüchtet nach Köln. Er wird 1951 bei einem Schauprozess in Abwesenheit zu acht Jahren Haft sowie zum Einzug seines gesamten Vermögens verurteilt. 1975 stirbt er in seiner Wahlheimat in Tirol kinderlos. Nach der friedlichen Revolution fehlt ein Erbe, der den Hünlich-Familienbetrieb weiterführen könnte. 1992 kauft die gräfliche Familie Hardenberg das Unternehmen und integriert es in die eigene Firma. 1998 erfolgt die Umbenennung in Hardenberg-Wilthen AG.
Mitteilung an die Geschäftspartner über die Verstaatlichung der C. T. Hünlich Weinbrennerei GmbH und Umwandlung in den VEB Weinbrand Wilthen/Sa.
Alles, was an Hünlich erinnert, wird nach der Enteignung vernichtet: Gläser, Werbematerial, Etiketten und alles erreichbare Archivmaterial. Die große Chronik der Zeit bis 1897 wird durch Mitarbeiter nachts aus dem Werk geschleust und gelangt zu Dr. Hünlich nach Köln. Sie liegt heute im Wilthener Betrieb.

Schauprozess gegen die „Wirtschafts­verbrecher“ von Glauchau und Meerane, 1948

Seid wachsam! Sichert die Errungenschaften unserer Deutschen Demokratischen Republik vor den Anschlägen der Spione, Saboteure und Agenten.
Plakat der SED, 1952
Radiobericht zum Schauprozess gegen die Textilunternehmer von Glauchau und Meerane - Tag 1

© Deutsches Rundfunkarchiv

Radiobericht zum Schauprozess gegen die Textilunternehmer von Glauchau und Meerane - Tag 2
Angesichts der schwierigen Wirtschaftslage in den Nachkriegsjahren versuchen sowohl Familien- als auch Volkseigene Betriebe (VEB) mit Tauschgeschäften ihre Produktion aufrechtzuerhalten. Laut SMAD-Befehl Nr. 160 vom Dezember 1945 ist dies aber verboten. Dennoch wird der Tauschhandel in Glauchau-Meerane von der Stadtverwaltung, der SED und auch von den Besatzungsbehörden stillschweigend mitgetragen. Ab Ende Juli 1948 schaltet sich die Zentrale Kontrollkommission (ZKK) ein und verhaftet viele Textilunternehmer, um ein Exempel zu statuieren.

Im November 1948 beginnt ein Schauprozess gegen diese Textilunternehmer. Sie haben sich strafbar gemacht, indem sie Textilien, vor allem die begehrten Damenstrümpfe, in der SBZ und in Westdeutschland gegen Rohstoffe und Lebensmittel eintauschten. Im Dezember verhängt das Glauchauer Gericht gegen fünf der elf Angeklagten Todesstrafen, drei weitere Angeklagte werden zu 15 Jahren Zuchthaus, einer zu zehn Jahren verurteilt. Die Todesstrafen werden nicht vollstreckt, sondern in lebenslängliche Haftstrafen umgewandelt. Der Prozess dient dazu, „Schieber und Spekulanten“ für die ökonomischen Probleme der im Aufbau befindlichen Planwirtschaft verantwortlich zu machen. In Auswertung des Prozesses kommt es zu einer Verschärfung der Wirtschaftskontrollen bei privaten Unternehmen.

Bundesarchiv, DX 1/133

Der Befehl Nr. 160 der Sowjetischen Militäradministration über die Verantwortung für Sabotage und Diversionsakte gegen den wirtschaftlichen Aufbau ermöglicht Haftstrafen von bis zu 15 Jahren und die Todesstrafe für Wirtschaftsverbrechen in besonders schweren Fällen. Der Prozess gegen die Textilunternehmer von Glauchau- Meerane ist der erste große Schauprozess aufgrund des Wirtschaftssabotagebefehls Nr. 160.

Ausschnitte aus Die Woche im Bild, 3. Oktober 1948
In der Presse der Sowjetischen Besatzungszone werden die „Textilschieber“ angeprangert und als Saboteure des Wiederaufbaus dargestellt.

Staatsbibliothek, Berlin

Auszug aus dem Plädoyer des Oberstaatsanwalts Dr. Kohn: Bundesarchiv, DP 3/1558

Die Gesetzesverstöße werden der Öffentlichkeit als politische Verbrechen präsentiert und zum „politischen Signal“ des Klassenkampfes stilisiert. Die Todesurteile stehen schon vor Prozessbeginn fest.

Bernburger Schauprozess gegen Solvay-Direktoren, Dezember 1950

Urteil vom 20. Dez. 1950: Bundesarchiv, DP 3/1567
Radiobericht zum Schauprozess gegen leitende Angestellte der Deutschen Solvay-Werke (Urteilsverkündung), 1950

© Deutsches Rundfunkarchiv

Die belgische Chemie-Gruppe Solvay, von den Brüdern Solvay 1863 als Familienunternehmen gegründet, eröffnet 1883 in Bernburg eine Sodafabrik. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wird die Fabrik unter Zwangsverwaltung gestellt. Im Juli 1945 fällt das Werk unter sowjetische Verwaltung. Bis zum April 1948 werden große Teile der Anlagen demontiert.
Nach Ausbruch des Korea-Krieges hält die sowjetische Besatzungsmacht die Zeit für gekommen, in der DDR befindliches Auslandseigentum zu verstaatlichen. Ein Schauprozess gegen die Direktoren der Solvay-Werke in Bernburg bildet dafür im Dezember 1950 den Auftakt. Ihnen werden Wirtschaftsspionage und Misswirtschaft vorgeworfen. Sie werden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Bernburger Werk wird in Staatseigentum überführt.
Deutsche Solvay Werke, Bernburg 1892 © Solvay Chemicals GmbH
Im September 1951 wird die Verwaltung der Auslandsvermögen der Industrie- und Handelsbank der DDR übertragen. Rund hundert ausländische Unternehmen behalten ihre alten Firmennamen mit dem Zusatz „in Verwaltung“ bei, werden nun aber de facto wie Staatsbetriebe behandelt.
Seit August 1991 ist das Sodawerk wieder Teil der Solvay-Gruppe. Der Neuanfang ist nicht leicht. Noch zu DDR-Zeiten werden in Bernburg rund 500.000 Tonnen Soda pro Jahr produziert. Anfang der 1990er Jahre geht die Nachfrage auf nur ca. 150.000 Tonnen pro Jahr zurück. Solvay hält jedoch an Bernburg fest. Bis heute hat die Gruppe mehr als 600 Mio. Euro in die Modernisierung und Erweiterung der Produktionsanlagen investiert. Aktuell werden im Bernburger Werk mit rund 400 Mitarbeitern neben den hochwertigen Grundstoffen Soda und Natriumbicarbonat auch hochreine Phosphorsäure und Wasserstoffperoxid hergestellt. Bei diesen Produkten zählt Solvay zu den Marktführern.

1956-1971
Unter Anpassungsdruck

Familienbetriebe und Staatsbeteiligung

Im Januar 1956 beschließt der Ministerrat, Unternehmern eine staatliche Beteiligung anzubieten. Diese garantiert eine regelmäßige Auftragslage, ist aber eine Einbahnstraße. Sie führt zum Ende des Unternehmertums im herkömmlichen Sinne, da sich die Anteile des Staates nicht zurückkaufen lassen und die Entscheidungen über die Produkte, Investitionen und Preise beim Staat und nicht mehr beim Unternehmer liegen. Für die Unternehmer sind die 1950er Jahre von „Stop and Go“-Phasen gegenüber der Privatindustrie geprägt. Trotz Zeiten der Lockerung bleibt ihre Existenz permanent bedroht. Als Folge der anhaltenden Diskriminierung vermindert sich die Zahl der privat geführten Betriebe im Jahr 1960 auf nur noch 6.500. In den 1960er Jahren müssen die noch existierenden Familienbetriebe und die Betriebe mit staatlicher Beteiligung ihre Produktion zugunsten der Bedarfe staatlicher Enderzeuger umstellen.
Mit der staatlichen Beteiligung gibt unser Staat den privaten Unternehmern die Möglichkeit, sich in viel stärkerem Maße als bisher fest mit der Arbeiter- und Bauernmacht zu verbinden. Damit zeigen diese Unternehmer, dass sie aktiv den Weg des Sozialismus beschreiten, weil er auch ihnen und ihren Angehörigen eine klare Perspektive und eine sichere Existenz gibt.
Walter Ulbricht auf der dritten Parteikonferenz der SED zur staatlichen Beteiligung an privaten Betrieben, März 1956

Bundesarchiv, DC 20-I/4/156

Beschluss 26/4 über die Beteiligung der Deutschen Investitionsbank an privatkapitalistischen Unternehmen vom 12.1.1956

Am 18. März 1966, zum 10. Jahrestag der staatlichen Beteiligung an privaten Betrieben, empfängt Walter Ulbricht 50 ausgewählte Unternehmer und versucht, ihre Existenzängste zu zerstreuen. Als ein Plauener Spitzen-Fabrikant fragt: „Was wird mit uns in zehn Jahren sein?“ gibt Ulbricht zur Antwort: „Nun, wir werden Sie fragen: Wie haben Sie den Plan erfüllt?“. Ulbricht spricht von einer Perspektive für die Privatindustrie in der DDR bis 1980 oder 1990.

In der Verdrängungspolitik gegenüber dem Mittelstand tritt jedoch auch in den 1960er Jahren keine Pause ein. Die noch existierenden Privatbetriebe und die Betriebe mit staatlicher Beteiligung werden noch mehr in die Planung einbezogen. Sie werden zu „verlängerten Werkbänken“ der staatlichen Industrie umfunktioniert.

In die Verfassung der DDR vom April 1968 wird für private Unternehmen ein Sozialisierungsvorbehalt eingebaut. Artikel 16 sieht die Möglichkeit von Enteignungen auf der Grundlage gesetzlicher Bestimmungen und gegen Entschädigung vor.

Enteignungen sind nur für gemeinnützige Zwecke auf gesetzlicher Grundlage und gegen eine angemessene Entschädigung zulässig. Sie dürfen nur erfolgen, wenn auf andere Weise der angestrebte gemeinnützige Zweck nicht erreicht werden kann.
Artikel 16 in Abschnitt 1 – Kapitel 2, Verfassung der DDR vom 6. April 1968

© ddrbildarchiv.de/Leon Schmidtke

Treffen von Walter Ulbricht mit ausgewählten Unternehmern halbstaatlicher Betriebe zum 10. Jahrestag staatlicher Beteiligung

Nachrichtenbericht über Walter Ulbrichts Empfang der Komplementäre, 18. März 1966 „Aktuelle Kamera”

© Deutsches Rundfunkarchiv

Nachrichtenbericht über Walter Ulbrichts Empfang der Komplementäre, 18. März 1966 „im Blickpunkt”

Alfred Weigel Federnfabrik GmbH & Co. KG, Chemnitz

Im Juli 1909 wird die Firma von Alfred Weigel zur Produktion von technischen Federn gegründet und firmiert ab 1928 als Alfred Weigel KG. Nach dem Krieg wird der zerstörte Betrieb wiederaufgebaut. Das Familienunternehmen erlebt eine erneute Zeit des Wachstums.

1959 entschließen sich die Inhaber zur Aufnahme einer staatlichen Beteiligung. Zu diesem Zeitpunkt erzielt die Firma über 1,5 Mio. Mark Umsatz mit Präzisionsfedern und beschäftigt rund 200 Mitarbeiter. Für die Betriebe ist die „freiwillige“ Aufnahme der staatlichen Beteiligung die einzige Möglichkeit, neues Kapital in das Unternehmen einzubringen. Die als Gesellschafter fungierenden Staatsbetriebe sollen ihrerseits die von ihnen „betreuten“ Privatbetriebe in eine zunehmende Abhängigkeit manövrieren. Mit jeder größeren Investition wächst der staatliche Anteil.

Im Zuge der letzten Verstaatlichungswelle wird die Alfred Weigel KG 1972, nach einem über Nacht andauernden Besuch „staatlicher Organe“ beim Betriebsinhaber Kurt Weigel, vollständig enteignet. Sein Sohn Siegfried wird als „geeignet“ befunden, den VEB Feinfedern Karl-Marx-Stadt als Direktor zu leiten.

Ende der 1950er Jahre Siegfried Weigel: 1. Reihe, 2. von links, Kurt Weigel: 3. von rechts, Kurt Sprunk (erweiterter Inhaber als Ehemann der Schwester Kurt Weigels): mittlere Reihe oben links
Bild der Belegschaft zum 25-jährigen Firmenjubiläum, 1934 In der ersten Reihe der sitzenden Herren ist Rudolf Weigel der 3. von rechts, Alfred Weigel der 7. von rechts und Kurt Weigel der 8. von links.
Frühere Visitenkarte, ab 1909 (links) Visitenkarte von Siegfried Weigel ab 1972 (rechts)

Produktionsstätten der Alfred Weigel Federnfabrik in den 1930er/40er Jahren

Bilder zur Firmengeschichte © Alfred Weigel Federnfabrik GmbH & Co. KG

Im Frühjahr 1990 reicht Siegfried Weigel, noch immer in der Position des Betriebsleiters, beim Wirtschaftsrat in Karl- Marx-Stadt (heute: Chemnitz) den Antrag zur Reprivatisierung ein. Mit Wirkung zum 1. Mai 1990 kommt das Unternehmen wieder in Familienbesitz und wird heute von der vierten Generation weitergeführt. Familie Weigel gelingt der schwierige Neustart und Aufbau eines neuen Kundenstamms. Sie folgen nicht den Empfehlungen von Unternehmensberatern, die auf schnellstmögliche Expansion drängen, sondern bleiben ihrer Firmenphilosophie treu und setzen auf ein langfristiges Wachstum. Heute werden die meist vollautomatisch hergestellten technischen Federn weltweit in allen Industriezweigen und allen Bereichen der Wirtschaft eingesetzt.

APOGEPHA Arzneimittel GmbH, Dresden

Betriebsleiter Dr. Johannes Starke kauft gemeinsam mit dem Kaufmann Max Biering 1933 die Apogepha und rettet sie vor dem wirtschaftlichen Aus. Bei der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 wird die Fabrik schwer beschädigt. Das Unternehmen entgeht der ersten Verstaatlichungswelle. Nachdem die Apogepha wiederholt unter staatlicher Willkür gelitten hat und die Erben Bierings aus der Firma ausscheiden wollen, muss Starke im Februar 1959 den Antrag auf staatliche Beteiligung stellen, der im April 1960 genehmigt wird. Die Mehrheit der Anteile geht in staatliche Hand über und der Betrieb firmiert nun als „BSB Apogepha Fabrik chemisch-pharmazeutischer Präparate Dr. Starke KG“.

Starke gelingt es dennoch, seine Patentrechte zu bewahren und die Möglichkeit der Vererbung seiner Gesellschaftsanteile vertraglich zu regeln. 1968 übernimmt Dr. Christian Starke nach dem Tod seines Vaters die Firmenleitung. 1972 erfolgt die Enteignung des Unternehmens. Unter wirtschaftlichem und politischem Druck gibt Christian Starke am 3. April 1972 die „freiwillige Erklärung“ zum Verkauf der Apogepha an den Staat ab. Er leitet fortan die Forschung des VEB Apogepha. Im Februar 1991 wird die APOGEPHA Arzneimittel GmbH reprivatisiert. Im Jahr 2000 übernimmt Henriette Starke, die Tochter von Christian Starke, die Geschäftsführung. Mit Übertragung der Gesellschafteranteile im Jahr 2011 befindet sich APOGEPHA nunmehr in dritter Generation in Familienbesitz.

Apogepha in der Kyffhäuserstraße, 1930er Jahre
Dr. Johannes Starke und Mitarbeiter 1945, Aufräumarbeiten auf dem zu 90 Prozent zerstörten Firmengelände

Am 11. Dezember 1965 wird Firmengründer Dr. Starke durch den Staat gewürdigt. Ihm ist es gelungen, die Apogepha KG vom fast vollständig zerstörten Betrieb zu einem modernen Arzneimittelbetrieb mit eigener chemischer Synthese sowie Forschungs- und Entwicklungstätigkeit zu entwickeln.

Starke (Taufname: Johannes Günther) unterzeichnet fast ausschließlich mit dem Vornamen Hans und wird so auch in vielen seiner Patente ausgewiesen.

Labor in den 1950er Jahren

Bilder und Dokumente: © Apogepha Arzneimittel GmbH
Messestand der halbstaatlichen Apogepha KG in den 1960ern
Produktion in den 1970ern
Mein Vater hat gekämpft, nicht resigniert.
Dr. Christian Starke zur Rolle seines Vaters für den Erhalt des Familienunternehmens

Erste Salzwedeler Baumkuchenfabrik

Im Jahr 1807 notiert Johann Schernikow ein von ihm verfeinertes Baumkuchenrezept in seinem „Conditorei-Buch“ und gründet ein Jahr darauf die Conditorei- und Baumkuchen-Fabrikation. Das handgeschriebene Buch überdauert Generationen.

Im Jahr 1920 erwirbt Fritz Kruse das Unternehmen Friedrich Schernikow. 1928 übernimmt er auch die ehemalige Baumkuchenbäckerei von Emil Schernikow und führt die Betriebe der Familie Schwernikow unter dem Namen "Vereinigte Baumkuchenfabriken" zusammen.

Ab 1945 leiten seine Frau Auguste und Tochter Gertrud die Firma. Sie geraten 1958 ins Visier staatlicher Kontrolleure. Auguste Kruse wird die Versendung von Baumkuchen an Privatkunden in der Bundesrepublik als Verstoß gegen das Handelsschutzgesetz der DDR vom April 1950 zur Last gelegt. Die 72-Jährige wird zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Ihr Vermögen wird eingezogen und der Betrieb enteignet, doch das Rezeptbuch bleibt in Privatbesitz. Die Krusische Baumkuchenfabrik wird in den VEB Nahrungsmittel eingegliedert.
1842 entwirft Joachim Friedrich Schernikow die Schutzmarke des Salzwedeler Baumkuchens, die heute noch gültig ist. Mit ihrem Baumkuchen werden die Schernikows zu Hoflieferanten preußischer Monarchen.
Auguste, Gertrud und Fritz Kruse
Logo der Vereinigten Baumkuchenfabriken
Die Angeklagte Kruse wird wegen Verletzung des Gesetzes zum Schutze des innerdeutschen Handels in Tatmehrheit mit Betrug zu einer Zuchthausstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das Vermögen der Angeklagten wird eingezogen.
Kreisgericht Salzwedel, 1959
Andere Salzwedeler Baumkuchenbäcker bringen ihre Firmen mehr oder weniger freiwillig in die neuen kollektiven Betriebsformen ein, wie ab 1958 in die Produktionsgenossenschaft „Bäcker und Konditoren“ und ab 1960 in den VEB Nahrungsmittel. Die Tradition der selbstständigen Baumkuchenbäcker- und Konditorfamilien in Salzwedel wird in der DDR durch genossenschaftliche und staatliche Produktion abgelöst.

Gertrud Kruse arbeitet weiterhin im Café, das von der staatlichen Handelsorganisation betrieben wird. Noch bevor sie 1984 den enteigneten Betrieb testamentarisch an die befreundete Familie Hennig vererbt, übergibt sie ihnen das geheim gehaltene „Conditorei-Buch“.

Im Jahr 1990 beantragt Oskar Hennig, der 1956 als Bäckergeselle von Familie Kruse eingestellt wurde, die Reprivatisierung. 1993 gründet er die „Erste Salzwedeler Baumkuchenfabrik“. Seine Tochter Bettina Hennig übernimmt im Jahr 2000 die Geschäftsleitung von ihrem Vater. 2007 treten ihre Tochter und ihr Neffe in die Firma ein.
2014 erhält das Familienunternehmen den „Großen Preis des Mittelstandes“. Bis heute wird bei Hennigs nach dem Rezept Schernikows gebacken.
Das Conditorei-Buch von 1807
heutiges Logo
Werbung mit einem Bild von ca. 1900
Der heutige Sitz der Hennig-Baumkuchenproduktion in der St. Georg-Straße in Salzwedel
Bettina Hennig in ihrem Betrieb

Bilder und Dokumente: © Erste Salzwedeler Baumkuchenfabrik

1972-1989
Komplette Verstaatlichung: Vernichtung des industriellen Mittelstands

Nach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1971/72 führt die SED einen finalen Schlag gegen den Mittelstand. Es geht um eine weitere Zentralisierung der Wirtschaft. Zugleich soll damit von eigenen Fehlern in der Wirtschaftspolitik abgelenkt und Sozialneid bedient werden. Gegen Entschädigung des Buchwertes erfolgt die Verstaatlichung von 11.800 Betrieben, darunter 6.700 Betriebe mit staatlicher Beteiligung, 3.400 private Industrie- und Baubetriebe und 1.700 Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH). Während der Anteil der Privatwirtschaft am Nettoprodukt der DDR 1971 noch bei 15 Prozent liegt, sinkt dieser bis 1989 auf nur rund vier Prozent ab.

Die längerfristigen Auswirkungen ihrer Politik hat die SED-Führung nicht bedacht. Die Planwirtschaft verliert ihr bis dahin flexibelstes Element mit negativen gesamtwirtschaftlichen Folgen. Zudem ist die Wirtschaftspolitik auf die Schaffung großer Wirtschaftseinheiten fixiert. 1980 beginnt die durchgängige Bildung von Kombinaten als letzte große Konzentrationswelle. Einzelne Hersteller nehmen eine Monopolstellung ein, kleine Serien können kaum produziert werden, die Reaktionsfähigkeit gegenüber Kundenwünschen nimmt ab.

Information zum Stand der Umwandlung, Juni 1972: Bundesarchiv, DY 30/2375
Brief von Erich Honecker an Leonid I. Breschnew, Juli 1972: Bundesarchiv, DY 30/2375

Im Stil eines Musterschülers übermittelt Honecker Breschnew am 13. Juli 1972 einen schriftlichen Bericht über den Stand der „Umwandlungsaktion“.

Familienunternehmen in der DDR benötigen ein besonders hohes Maß an Beharrlichkeit und Einfallsreichtum, um in den Nischen der Planwirtschaft zu bestehen. Entgegen der vielen wirtschafts- und finanzpolitischen Erschwernisse ringen die Unternehmer beharrlich um jeden Gestaltungsspielraum, sei er auch noch so klein. Sie sind Manager des Mangels und müssen permanent Strategien entwickeln, um das eigene Unternehmen gegen den vormundschaftlichen Staat abzuschirmen. Die Familienunternehmen bedienen hauptsächlich den Inlandsmarkt. Exportgüter müssen über den staatlichen Außenhandel vertrieben werden. Nur noch wenige produzieren für den Weltmarkt.

Trotz sehr begrenzter Möglichkeiten für Werbung pflegen die meisten Familienunternehmen ihre Marken und Warenzeichen. Selbst mit der letzten Verstaatlichungswelle 1972 gelingt die Auslöschung der traditionellen Firmennamen nicht völlig. Familienunternehmen wie Kathi, Blüthner und Apogepha erreichen, dass ihr Namenszug auch von den Staatsbetrieben geführt wird. Sie hoffen, früher oder später ihre Unternehmensanteile zurückzubekommen und wieder selbstbestimmt tätig sein zu können.

Da kam ein Mitarbeiter und mit sehr viel Zynismus sagte er, also, wir wollen Ihren Betrieb haben. Da hab ich gesagt, das mag schon sein, aber ich sehe keine Notwendigkeit. Da hat er gesagt: Passen Sie auf, am 5. Mai wird der Betrieb verstaatlicht und Sie haben zwei Möglichkeiten. Entweder Sie bleiben als Leiter in dem Betrieb oder wir machen hier 'ne Steuerprüfung. Es wird sich dann sicherlich herausstellen, dass Sie viele Dinge falsch gemacht haben. Und das wird dann Ihr Ende in der Klavierbranche sein.
Unternehmer Ingbert Blüthner-Haessler im Interview, 2007

Julius Blüthner Pianofortefabrik GmbH, Großpösna bei Leipzig

Die Blüthner-Fabrik 1903
Zum 125-jährigen Firmenjubiläum des Familienunternehmens besuchen Journalisten des Westberliner Radiosenders RIAS den VEB Blüthner Pianos. In der Mitte: Ingbert Blüthner-Haessler
Die 1853 von Julius Blüthner in Leipzig gegründete Pianofortefabrik erlangt mit ihren Instrumenten schnell einen ausgezeichneten Ruf und wird Europas größter Klavierhersteller. Dr. Rudolf Blüthner-Haessler heiratet 1928 in die Klavierbauerfamilie ein und tritt später die Firmennachfolge an. Den 1943 bei einem Luftangriff zerstörten Betrieb baut er nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Vorort von Leipzig wieder auf. Als Devisenbringer ist Blüthner so interessant, dass die Firma 1958 in die Aufnahme einer staatlichen Beteiligung gedrängt wird. 1966 übernimmt der Sohn Ingbert Blüthner-Haessler als vierte Generation die Firmenleitung und bleibt auch nach der Verstaatlichung 1972 Betriebsleiter.

Die international geschützten Namensrechte werden für einen geringen Betrag auf den VEB übertragen. Der Betrieb soll gemäß der Entscheidung des Stadtbezirksbürgermeisters zunächst als Leipziger Pianobau firmieren. Nach langen Verhandlungen schafft es Blüthner, den traditionellen Marken- und Familiennamen auch in der Firmenbezeichnung VEB Blüthner Pianos zu erhalten. In den 1980ern macht dem Betrieb die mangelnde Qualität von Zulieferteilen zunehmend zu schaffen. Ingbert Blüthner-Haessler erhält erst nach harten Auseinandersetzungen die Importgenehmigung, um die notwendigen Teile für den hochwertigen und exportfähigen Instrumentenbau aus dem Westen zu bekommen.
1990 führt Ingbert Blüthner-Haessler den Betrieb in Familienbesitz zurück. Es gelingt dem Familienunternehmen mit über 150-jähriger Tradition, sich wieder am Weltmarkt zu etablieren. 1995 treten die Söhne Dr. Christian und Knut Blüthner-Haessler in die Firmenleitung ein.
Bilder zur Firmengeschichte: © Archiv Julius Blüthner Pianofortefabrik GmbH

Zeuke & Wegwerth KG, Berlin

Die Firma Zeuke & Wegwerth fertigt seit 1946 Modelleisenbahnen. 1956 nehmen Werner Zeuke und Helmut Wegwerth eine staatliche Beteiligung auf. Die Zeuke und Wegwerth KG wird 1972 verstaatlicht und in VEB Berliner TT-Bahnen umbenannt. Der VEB setzt die Belieferung des westdeutschen Versandhauses Quelle mit Modelleisenbahnen fort. Aufgrund des Devisenmangels der DDR werden zunehmend Modelle unter dem Herstellungspreis verkauft, was zu einer Verschuldung führt. 1990 wird der Betrieb reprivatisiert. Ein wirtschaftlicher Neuanfang gelingt der nunmehrigen Berliner TT-Bahnen Zeuke GmbH jedoch nicht.
Werbung 1971/72 © Tillig Modellbahnen GmbH
Werbung 1979 © Tillig Modellbahnen GmbH

KATHI Rainer Thiele GmbH, Halle/Saale

Im März 1951 gründet das Ehepaar Käthe und Kurt Thiele in Halle/Saale die Kathi-Nährmittelfabrik Kurt Thiele KG. Käthe Thiele kreiert „kochfertige Hausrezepte“ und entwickelt die erste deutsche Backmischung. Mit dieser Innovation gelingt dem Unternehmen ein großer Wurf. 1957 sieht sich Kurt Thiele zur Aufnahme einer staatlichen Beteiligung gezwungen. Andernfalls hätte das Unternehmen keine Kredite erhalten. Rainer Thiele, der Sohn der Gründer, tritt 1961 in die Firma ein. Als das Familienunternehmen im April 1972 verstaatlicht wird, muss er mit der Umwandlungskommission die „freiwillige Betriebsübergabe“ verhandeln.
Kleiner machen konnten sie uns, aber nicht einfach auslöschen.
Rainer Thiele
Thieles schaffen es jedoch, den Markennamen „Kathi“ patentrechtlich zu bewahren, wenn auch der Schriftzug auf den Verpackungen stark verkleinert werden muss. Rainer Thiele bleibt zunächst als Werksdirektor im Betrieb, verlässt diesen jedoch 1976, nachdem er zum ökonomischen Direktor herabgestuft wird. Bis 1990 arbeitet er im VEB Kombinat Nahrungsmittel und Kaffee und ist ab 1980, als Kathi in dieses Kombinat eingegliedert wird, indirekt wieder für den elterlichen Betrieb verantwortlich. Im Februar 1990 beantragt Rainer Thiele die Reprivatisierung. Ihm gelingt der schwierige Wiederaufbau des Familienunternehmens mit konsequenter Markenpolitik, auf die bereits Kurt und Käthe großen Wert gelegt hatten. Für sein Lebenswerk erhält Rainer Thiele zahlreiche Auszeichnungen. Die KATHI Rainer Thiele GmbH ist heute Marktführer in Ostdeutschland und erzielt auch in den alten Bundesländern Zuwächse.
Weitere Reglementierungen erschweren die Entwicklung des Familienunternehmens. Ab 1965 darf die Kathi-Nährmittelfabrik nicht mehr ins Ausland exportieren und ab 1969 wird die Produktion auf Backmischungen beschränkt.
Vertrag zur Verstaatlichung der Kathi-Nährmittelfabrik und Umwandlung in den VEB Backmehlwerk Halle vom 26.4.1972
KATHI wird heute in dritter Generation von Rainer Thieles Sohn Marco und dessen Frau Susen geleitet.

Belegschaft der Kathi-Nährmittelfabrik in den 1950er-Jahren. In der Mitte: Käthe, Rainer und Kurt Thiele

Bilder und Dokument zur KATHI-Firmengeschichte © KATHI Rainer Thiele GmbH

Mühle-Glashütte GmbH nautische Instrumente und Feinmechanik, Glashütte/Sa.

Das 1869 von Robert Mühle gegründete Unternehmen fertigt hochpräzise Messinstrumente für die Glashütter Uhrenbetriebe, später kommen Tachometer und Autouhren hinzu. Wie viele Glashütter Betriebe wird „R. Mühle & Sohn“ 1945 demontiert und enteignet.
Hans Mühle, der Enkel des Gründers, wird im enteigneten Betrieb, jetzt VEB Messtechnik Glashütte, zeitweilig als Leiter eingesetzt. Parallel dazu kauft er Maschinen und gründet im Dezember 1945 das Familienunternehmen unter dem Namen „Ing. Hans Mühle, Feinmechanik Glashütte“ neu. Die Firma fertigt verschiedene Arten von Messtechnik und wird alleiniger Hersteller von Zeigerwerken für Druck- und Temperaturmessgeräte in Ostdeutschland.
Gründerhaus und Produktion, 1935
Fertigung im Jahr 1950
Hans Mühle, um 1960
Die heutige Produktion
Der Sohn, Hans-Jürgen Mühle, führt die Firma ab 1970 weiter und bleibt Betriebsleiter, nachdem das Familienunternehmen 1972 zum zweiten Mal enteignet und in den VEB Feingerätetechnik umgewandelt wird. 1980 wird der VEB als Betriebsteil F VII Messund Regeltechnik in den VEB Glashütter Uhrenbetriebe (GUB) eingegliedert. Als Vertriebsleiter der GUB ist Hans-Jürgen Mühle später für den weltweiten Vertrieb von Schiffsuhren und Marine-Chronometern sowie für Armbanduhren des DDR-Marktes und sozialistischen Wirtschaftsgebiets zuständig
Hans-Jürgen und sein Sohn Thilo Mühle
Nach der Wiedervereinigung bereitet Hans-Jürgen Mühle mit weiteren Geschäftsführern die Privatisierung der GUB vor. Danach folgt er seiner Berufung, gründet 1994 die Mühle-Glashütte GmbH nautische Instrumente und Feinmechanik und knüpft an seine Kontakte als GUB-Vertriebsleiter an. Dem in der Entwicklung von hochpräzisen Messinstrumenten erfahrenen Familienunternehmen gelingt der Neustart mit Marinechronometern, Schiffsuhren und eigenen Armbanduhren. Ab 2007 übernimmt mit Thilo Mühle die fünfte Generation die Geschäftsleitung.
Bis Sonntag, 16. April 1972, war ich ein unerwünschter Kapitalist – ab Montagmorgen 17. April, 7.00 Uhr ein Direktor der sozialistischen Arbeit
... kommentiert Hans-Jürgen Mühle den unfreiwilligen Berufswechsel vom Firmeninhaber zum VEB-Leiter.

Aktuelle sowie Fotos zur Firmengeschichte: © Mühle-Glashütte GmbH

Neue Kleinstbetriebe in den 1980ern

Nach dem finalen Schlag gegen den industriellen Mittelstand 1972 können sich private Unternehmen nur noch im Handwerk behaupten. Angesichts fortbestehender Engpässe bei Handwerks- und Dienstleistungen aller Art lockert der Staat in den 1980er Jahren ein wenig seine restriktiven Bestimmungen und gestattet die Gründung von Kleinstbetrieben.

Manch ungewöhnliche Unternehmensgeschichte, geprägt von Selbstbehauptungswillen und Eigensinn, nimmt in den 1980er Jahren ihren Anfang, als kaum jemand damit rechnet, dass es die DDR bald nicht mehr geben wird.

Kiebitzberg® Gruppe, Havelberg

Andreas Lewerken in seiner Werkstatt 1987. Die Qualitätskontrolle erfolgt durch Tochter Agnes Lewerken.
Seine Lehre macht Andreas Lewerken bei einem privaten Möbeltischler in Suhl. Statt Holzgestaltung zu studieren, gründet er gemeinsam mit seiner Frau im April 1985 eine Manufaktur für therapeutisches und didaktisches Holzspielzeug in der ländlichen Umgebung von Havelberg. Die Spielzeuge vom Kiebitzberg sind im Kunsthandel und in Galerien der DDR beliebt. Nachdem 1990 die Märkte für das Holzspielzeug wegbrechen, steigen die Lewerkens auf Möbelbau um und investieren in einen modernen Maschinenpark. Die Kiebitzberg® Möbelwerkstätten wachsen und ziehen 1996 nach Havelberg. Als der über 300-jährigen Werftgeschichte am Standort Havelberg das Ende droht, übernehmen die Lewerkens das Industriegebiet von der Treuhand und bauen es aus.
Kiebitzberg Werftgelände 2019
Die 1998 gegründete Kiebitzberg® Schiffswerft GmbH & Co. KG beginnt mit Schiffsinnenausbau- und Reparaturaufträgen. Ab 2001 werden wieder Schiffe in Havelberg gebaut. Im gleichen Jahr wird auch eine Mineralstoff-Fertigung errichtet. 2007 wird die Firmengruppe der Lewerkens um ein Hotel ergänzt, das saniert und neugestaltet als ArtHotel Kiebitzberg® 2012 seine Eröffnung feiert.
Für ihre Leistung und ihr Engagement als Familienunternehmer erhalten die Lewerkens viele Auszeichnungen. Sohn Florian Lewerken kommt nach dem Studium ins Unternehmen und ist heute Prokurist und Junior-Chef.

Alle Fotos: © Kiebitzberg Gruppe

Ab 1990
Reprivatisierung

Re-Etablierung von Familienunternehmen in Ostdeutschland

Von entscheidender Bedeutung für die Neustrukturierung der Wirtschaft in den ostdeutschen Bundesländern ist der Aufbau eines Mittelstands. Dies geschieht über die Reprivatisierung der 1972 enteigneten Betriebe, Management-Buy-out- oder Management-Buy-in-Privatisierungen und Neugründungen. Auch verlegen Familienunternehmen, die nach Westdeutschland abgewandert waren, ihren Sitz zurück an die Ursprungsstandorte. In den häufigsten Fällen übernehmen Familienunternehmen aus den alten Bundesländern bzw. aus dem Ausland Betriebsstätten in den ostdeutschen Bundesländern oder gründen dort Tochterunternehmen. Mitunter verlegen sie auch ihre Firmensitze komplett an die neuen Standorte.

Familienunternehmen tragen maßgeblich dazu bei, dass der Anteil des verarbeitenden Gewerbes der ostdeutschen Bundesländer am gesamtdeutschen Ergebnis vom Tiefpunkt im Jahr 1992 mit nur 3,5 Prozent auf etwa zehn Prozent in den 2010er Jahren steigt. Die allmähliche, hauptsächlich von Familienunternehmen getragene Reindustrialisierung wirkt sich positiv auf den Arbeitsmarkt aus.

Bundesregierung, B 145 Bild-00102878 / Burkhard Jüttner

Helmut Kohls Rede anlässlich der Vertragsunterzeichnung über die Schaffung der Währungsunion zwischen der BRD und der DDR am 18. Mai 1990 im Palais Schaumburg, Bonn

Mit der sofortigen vollständigen Marktöffnung und dem Inkrafttreten der Währungsunion zum 1. Juli 1990 ändern sich über Nacht die Existenzbedingungen für alle ostdeutschen Betriebe. Die Wirtschaftsleistung geht dramatisch zurück. Das Fehlen von weltmarktfähigen Produkten und international bekannten Marken sowie ein oft überaltertes Anlagevermögen erweisen sich als schwere Hypotheken. Dies sind die fatalsten Folgen der Zerstörung des industriellen Mittelstands. Zudem leiden die ostdeutschen Bundesländer unter einer massiven Abwanderung vorwiegend jüngerer Menschen.

Die Währungsunion war eine Frage Ökonomie kontra Politik. Sie ist von der Macht entschieden worden, nicht von der Sache. In der Nacht zum 1. Juli 1990 ist der gesamte Kapitalstock der DDR total vernichtet worden. Durch die 300-prozentige Aufwertung wurde die Industrie ihrer Liquidität beraubt.
Kommentar von Norman van Scherpenberg, Generalbevollmächtigter der Treuhandanstalt

Das Detlev-Rohwedder-Haus in der Wilhelmstraße 97, 10117 Berlin - zwischen 1991 und 1994 Hauptsitz der Treuhandanstalt. Foto: Alexander Savin, 18.7.2019, Wikimedia Commons/FAL

Michael Fetscher (2000): Die Reorganisation von Eigentumsrechten mittelständischer Unternehmen in Ostdeutschland.

Scharnbeck Optik GmbH, Rathenow

Belegschaft, 1938 © Archiv Scharnbeck Optik GmbH

Das Brillenfertigungsunternehmen wird 1895 von Karl Scharnbeck gegründet. 1969 übernimmt sein Enkel Hans Scharnbeck die Firmenleitung. Drei Jahre später wird der bis dahin in Privatbesitz befindliche Betrieb verstaatlicht und in den VEB Metallbrillen umgewandelt. Nach der Enteignung bleibt Hans Scharnbeck als Betriebsleiter im VEB bis er 1978 abgesetzt wird. Zeitweilig darf er das Betriebsgelände, das 1972 vom Wohngrundstück der Familie abgetrennt wurde und über keine eigene Zufahrt verfügt, nicht mehr betreten. Danach arbeitet er bis zur Wende als einfacher Angestellter und Ansprechpartner für Spezialanfertigungen in der ehemals eigenen Firma.

Werbung des VEB Rathenower Optische Werke „Hermann Duncker“, in dem bis 1980 alle Optikbetriebe der Stadt konzentriert werden. © Optik Industrie Museum Rathenow

Maß- und Reparaturarbeit im Brillenservice Scharnbeck Optik © Scharnbeck Optik GmbH
Der Sohn Stefan Scharnbeck eröffnet als ausgebildeter Augenoptikmeister mit seiner Frau noch im Januar 1989 ein Geschäft in Potsdam. Nach der friedlichen Revolution wagt er gemeinsam mit seinem Vater den Neuanfang, kauft den Familienbetrieb in Rathenow zurück und gründet die Scharnbeck Optik GmbH. Die Firma fokussiert sich auf Spezialanfertigungen, Farbbeschichtungen und Reparaturen. Scharnbecks Unternehmen ist der älteste in Familienbesitz befindliche Optik-Betrieb in Rathenow.

Wendt & Kühn KG, Grünhainichen

Grete Kühn und Grete Wendt, Gründerinnen der Manufaktur, ca. 1925
Die Manufaktur für Holzfiguren und Spieluhren wird 1915 von Margarete „Grete“ Wendt und Margarete „Grete“ Kühn in Grünhainichen im Erzgebirge gegründet. Während Grete Kühn nach ihrer Heirat den Betrieb verlässt, kommt Olga „Olly“ Sommer 1920 als Malerin hinzu. Bald darauf wird sie selbst zur Gestalterin und heiratet 1930 Grete Wendts Bruder Johannes. Die Manufaktur wächst und erlangt internationale Bekanntheit. Als 1946 50 Prozent der Firma enteignet werden, gelingt es Grete Wendt im Jahr darauf mit Unterstützung der Belegschaft, diese Anteile zurückzukaufen. Hans, der Sohn von Olly und Johannes Wendt, wird 1957 Mitinhaber.
Bemalung der Figuren, um 1936
Im April 1972 wird das Familienunternehmen verstaatlicht und in „VEB Werk-Kunst“ umbenannt. Hans Wendt leitet die Firma als Betriebsdirektor weiter und schafft es, das Markenlogo „W.u.K.“ in den Initialen des VEBs zu bewahren. Mit seinem unternehmerischen Gespür rettet Hans Wendt die Werte der Firma – Mustertreue und qualitative Handwerkskunst – durch die sozialistische Ära. Im Frühjahr 1990 kauft er den Betrieb zurück. Die Wendt & Kühn KG bleibt der manufakturmäßigen Figurenfertigung nach den Entwürfen von Grete und Olly Wendt mit Erfolg treu und wird inzwischen in der dritten Generation von den Geschwistern Claudia Baer und Dr. Florian Wendt geleitet.
1923 entwirft Grete Wendt die ersten drei Grünhainichener Engel, die auf ihren grünen Flügeln stets elf Punkte tragen: den Fackelträger, den Flöten- und den Geigenspieler.

Ein Grünhainichener Engel erhält seine elf Punkte.

Bilder: © Wendt & Kühn KG

Ab 1990
Neuanfang

Ich will das Werk retten
... ist Dr. Holger Loclairs erster Gedanke am 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls.

1. Management-Buy-out/Management-Buy-in (MBO/MBI)

Die rund 3.000 MBO/MBI-Privatisierungen wertet die Treuhandanstalt als Erfolgskapitel. Bei einem MBO wird ein Betrieb oder Geschäftsfeld an Mitglieder des dortigen Managements verkauft. Oft kommen MBOs erst dann zustande, wenn sich kein Investor finden lässt und die Stilllegung des Unternehmens droht. In vielen Fällen tun sich die ostdeutschen Manager mit einem auswärtigen, zumeist westdeutschen Investor zusammen (MBI), um Kapital und Know-how zu erhalten.

2. Rückkehrer

Nach viereinhalb Jahrzehnten der deutschen Teilung gibt es für die wenigsten von Ost- nach Westdeutschland abgewanderten Familienunternehmen einen zwingenden wirtschaftlichen Grund zur Rückkehr. Besonders starke emotionale Bindungen an die alten Standorte in Sachsen und Thüringen führen trotzdem in einigen Fällen zur Rückverlegung von Unternehmenssitzen. Die Rückkehr der Bauerfeind AG nach Zeulenroda ist hierfür ein herausragendes Beispiel.

3. Firmensitzverlegungen

Gemessen an den Beschäftigtenzahlen und am Umsatz spielt die Übernahme von Standorten bzw. die Errichtung von Zweigwerken in den ostdeutschen Bundesländern durch Familienunternehmen die wichtigste Rolle für den Aufbau eines neuen Mittelstands. Einige verlegen auch ihre Firmensitze nach Ostdeutschland, wie die Edelstahlhersteller Boschgotthardshütte (BGH) von Siegen nach Freital und Familie Schmees von Langenfeld nach Pirna.

4. Neugründungen

Gründer aus Ost und West etablieren sich in den Neuen Bundesländern.

Produktionshalle © ORAFOL Europe GmbH

Herstellung der Folienprodukte bei der ORAFOL Europe GmbH in Oranienburg

ORAFOL Europe GmbH, Oranienburg

Die rasante Entwicklung des Herstellers von selbstklebenden graphischen Produkten, Klebebandsystemen und reflektierenden Materialien wird maßgeblich von Dr. Holger Loclair geprägt. Seit 1977 arbeitet er beim VEB Spezialfarben Oranienburg (gegründet als Richard Wibelitz KG) und übernimmt 1987 die Betriebsleitung. Nach der Auflösung des Kombinats Lacke und Farben, dem der Oranienburger VEB angehörte, setzt er alles daran, das Know-how und den Standort zu erhalten. Mit Klaus Schmidbaur, dem Inhaber des Westberliner Klebebandherstellers Transatlantic, findet Loclair einen passenden Investor. Per MBO/MBI wird der Betrieb im April 1991 privatisiert. ORAFOL expandiert, baut neue Werke sowie eine neue Firmenzentrale im Oranienburger Gewerbepark Nord und eröffnet weltweit Niederlassungen. Der ORAFOL-Konzern erzielt 2018 einen Umsatz von rund 580 Millionen Euro und beschäftigt 1.700 Mitarbeiter weltweit, davon etwa 1.000 in Europa.

Fotos: © ORAFOL Europe GmbH

Die Folienprodukte von ORAFOL finden sich nahezu überall – auf Verkehrszeichen, Autos, Pkw-Nummernschildern, Bussen, Flugzeugen, der Bekleidung von Feuerwehrleuten, Fensterscheiben und Hochhäusern.

Miltitz Aromatics GmbH, Bitterfeld-Wolfen

Das Familienunternehmen Schimmel & Co. in Leipzig-Miltitz war einst Weltmarktführer bei der Herstellung von Duftstoffen und Aromen – den Grundstoffen für Parfüm, Seifen, Liköre und Limonade. 1948 wird die Firma verstaatlicht. Nach dem Fall der Mauer hoffen viele Mitarbeiter, an frühere Glanzzeiten anknüpfen zu können, doch die Duftstoff-Märkte haben sich gewandelt. Die Treuhandanstalt spricht sich für Gesamtvollstreckung aus. Der Insolvenzverwalter setzt auf MBO/MBI-Projekte zum Verkauf der einzelnen Geschäftsfelder. 1992 gründen leitende Chemiker der Firma, darunter Dr. Peter Müller und Dr. Jürgen Braband, mit dem Unternehmer Heinz Grau aus Schwäbisch Gmünd die Miltitz Aromatics GmbH. Sie konzentrieren sich auf chemische Synthesen von Riech- und Aromastoffen. 1993 zieht die Firma in den Chemiepark Bitterfeld-Wolfen. Die meisten Duftstoffe liefert Miltitz heute an Hersteller von Waschmitteln sowie an die Lebensmittel- und Kosmetikindustrie. 2013 übernimmt Dr. Stefan Müller die Geschäftsführung von seinem Vater. In der Covid-19-Krise 2020 wandelt Miltitz Aromatics Alkoholbestände in Desinfektionsmittel um und stellt sie als Spende verschiedenen Krisenstäben zur Verfügung.
Das Unternehmen verkauft seine Riechstoffe in über 30 Länder weltweit.
Aktueller Blick auf das Firmengelände im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen

Bilder © Miltitz Aromatics GmbH

Bauerfeind AG, Zeulenroda-Triebes

Das 1929 in Zeulenroda (Thüringen) von Bruno Bauerfeind gegründete Unternehmen für medizinische Kompressionsstrümpfe baut sein Sohn Rudolf aufgrund der drohenden Enteignung in der Sowjetischen Besatzungszone ab 1949 in Darmstadt (Hessen) neu auf. 1972 kommt durch die Übernahme der Firma Grotena ein Standort in Kempen (Nordrhein-Westfalen) dazu.
1978 übernimmt Prof. Hans Bauerfeind, der Enkel des Gründers, die Leitung des Familienunternehmens und verlegt den Firmensitz zunächst nach Kempen.

Nach der Wiedervereinigung führt Hans Bauerfeind das Unternehmen 1991 jedoch an seinen Ursprungsort nach Zeulenroda zurück. Für Bauerfeind ist dies eine Entscheidung, die er eher aus emotionalen als aus wirtschaftlichen Gründen trifft: Er will beim wirtschaftlichen Neubeginn im Osten mitwirken. Der Betrieb in Zeulenroda-Triebes wird bis 1997 schrittweise zum größten Produktionsstandort der weltweit aktiven Bauerfeind AG ausgebaut.

Der Betrieb in der Hohen Straße 107 in Zeulenroda
Arbeit in der Umspinnerei 1934
Rechnung vom 29. Juni 1949, noch ausgestellt auf den Firmensitz in Zeulenroda
Bescheinigung über die Gewerbeanmeldung in Darmstadt, 20. August 1949
„Bebezet“ ist die erste Strumpfmarke, mit der Bauerfeind 1929 seine Produktion beginnt. 1967 entwickelt Hans Bauerfeind die Rundstrickmaschine für nahtlose Strümpfe, die eine schnelle Herstellung nach Maß ermöglicht. Aus der Marke „Bebezet“ wird in dieser Zeit „glatt-elast“.
Konzernzentrale in Zeulenroda (2018): Der „Tower“, das 2004 fertiggestellte neue Verwaltungsgebäude, ist mit 57 Metern Höhe das erste Hochhaus in Thüringen nach der Wende. (Fotograf: Marcus Daßler, Bildfeuer)
Blick in die heutige Produktion
Hauptgeschäftsfeld des Unternehmens bleibt die Herstellung von medizinischen Hilfsmitteln für die Fußorthopädie. Neu hinzu kommt in den 2000er Jahren die Prothetik-Sparte.
Die Konzentration auf den Ausbau in Thüringen, samt Forschung/Entwicklung und Logistik hat Konsequenzen für den Standort Kempen, der im Frühjahr 2009 schließlich ganz aufgegeben wird. Jedoch bleibt mit Remscheid ein Standort im Westen erhalten. Im Jahr 2019 nimmt eine neu errichtete Produktionsstätte für Einlagen und Orthesen in Gera den Betrieb auf.

Die Bedeutung des Unternehmens für die Region wird an den Mitarbeiterzahlen deutlich: Von den heute weltweit 2.100 Angestellten sind 1.100 in Zeulenroda beschäftigt – 1991 begann die Reprivatisierung mit 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Hans Bauerfeind führt das Unternehmen bis Ende 2019 und ist mittlerweile Vorsitzender des Aufsichtsrates. Für sein unternehmerisches und gesellschaftliches Engagement erhält er zahlreiche Auszeichnungen.

Bilder und Dokumente: © Bauerfeind AG

BGH Edelstahlwerke GmbH, Freital

Der Sächsischen Edelstahlwerke GmbH (SEW), ehemals VEB Edelstahlwerk 8. Mai 1945, droht 1992 die Abwicklung, nachdem die von der Treuhandanstalt favorisierte Privatisierung an die Thyssen AG scheitert. Heftige Proteste der Mitarbeiter erzwingen jedoch eine Unterstützung der Landesregierung für das Sanierungskonzept der Boschgotthardshütte GmbH aus Siegen (NRW). 1993 übernimmt das von Rüdiger Winterhager geführte Familienunternehmen die SEW. Winterhager verlegt seine Geschäftsaktivitäten und damit den Hauptsitz der BGH-Gruppe nach Freital und erneuert 90 Prozent der dortigen Produktionsanlagen. Er profiliert die Firma zum hochspezialisierten Edelstahl-Anbieter. Weitere Standorte in Lippendorf und Lugau (beide in Sachsen) sowie in Siegen, Nettetal und Katowice gehören zur BGH-Gruppe, in der inzwischen Rüdiger Winterhagers Sohn Sönke die Leitung übernommen hat.
© Archiv BGH Edelstahlwerke,
Fotograf: Christian Trapp

Betriebsbesetzung 1992

© BGH Edelstahlwerke GmbH

In die Sanierung des Werks investiert Rüdiger Winterhager insgesamt 300 Mio. DM.

Edelstahlwerke SCHMEES GmbH, Pirna

Sigrid und Dieter Schmees gründen im Jahr 1961 eine Lohndreherei im nordrhein-westfälischen Langenfeld, die sich 1968 zur großen Gießerei entwickelt. 1992 erwirbt Familie Schmees das Stahlwerk in Pirna (ehemals VEB Gießerei Copitz). Sie wagen die Investition in den Standort, da dieser ihnen ermöglicht, größere Mengen Stückgewicht zu gießen als in Langenfeld. Bereits 1993 wird der Hauptgeschäftssitz der Edelstahlwerke SCHMEES nach Pirna verlegt. Im gleichen Jahr übernimmt mit Clemens Schmees die zweite Generation die Geschäftsleitung. Das Werk wird zu einer global agierenden Edelstahlmanufaktur ausgebaut. Aus dem alten Bestand der DDR-Maschinen ist nur der große elektronische und modernisierte Lichtbogenofen geblieben. Besonders schwergewichtige Teile werden heute in Pirna produziert. Die Fertigung von Kunstwerken für weltweit renommierte Künstler ist zum immer größeren Geschäftszweig geworden.
„PENDULUM“ (Gijs Assmann), 9.000 kg schwer, 9 m hoch, aufgestellt im März 2020 in Amsterdam © Friso Keuris

Sweet Tec, Toffee Tec und Ragolds GmbH, Boizenburg

Mecklenburg-Vorpommern ist seit den 2000er Jahren ein Zentrum der Süßwarenindustrie geworden. Familienunternehmen wie die Trolli GmbH haben hier ihre Produktionen aufgebaut. Einen wesentlichen Anteil daran haben auch die Firmenneugründungen des Unternehmers Oliver Schindler in Boizenburg. Nach dem Ausstieg aus der Karlsruher Firma Ragolds Süßwaren GmbH & Co. KG des Vaters, bekannt durch Marken wie „Rachengold“ und „Atemgold“, zieht Oliver Schindler in den Norden und gründet 2002 in Boizenburg die Toffee Tec GmbH. 2004 kommen die Süßwarenfabrik Sweet Tec, die heute täglich 90 Mio. Bonbons, Lollis und Fruchtgummis herstellt, und 2005 die Ragolds GmbH hinzu. Familie Schindler ist der größte Arbeitgeber der Stadt.
© Sweet Tec GmbH

Luftbild

© Sweet Tec GmbH

Gummibärenbeölung

Freiberger Compound Materials GmbH

Die ersten Versuche, den 1990 in die Freiberger Elektronikwerkstoffe GmbH (FEW) umgewandelten VEB Spurenmetalle zu privatisieren, schlagen fehl. Im Jahr 1993 übernimmt Dr. Werner Freiesleben, ein ehemaliger Manager der Wacker AG aus München, die FEW-Geschäftsführung. Die Firma wird in drei Geschäftsfelder geteilt, die getrennt privatisiert werden: Solar/Silizium, Elektronik/Silizium und Galliumarsenid. 1995 übernimmt die Federmann Enterprises Ltd. den Galliumarsenid-Bereich und gründet die Freiberger Compound Materials GmbH (FCM).

Yekutiel Federmann, der Gründer des Familienunternehmens, antwortet auf die Frage, warum er in Ostdeutschland investiere, mit einem Schillerzitat: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.“

Für Yekutiel Federmann und seinen Sohn Michael ist die Gründung des Tochterunternehmens in Freiberg auch eine Rückkehr zu den sächsischen Wurzeln. Yekutiel Federmann wird 1914 in Chemnitz geboren. Seine Eltern betreiben hier eine Bäckerei, die zu den ersten 1933 von den Nazis attackierten jüdischen Geschäften gehört. Die Federmanns fliehen aus Deutschland und leben später in Israel.

Herstellung des ersten Germaniumdioxids im Labor einer ehemaligen Bleihütte, Bild des Gebäudes von ca. 1960, © Archiv FCM
GaP/InP-Syntheseanlage des VEB Spurenmetalle – Eigenentwicklung 1972,
© Archiv FCM
1995 Grundsteinlegung durch Yekutiel Federmann für das neue Domizil der Firma,
© Archiv FCM
1997 Anlauf der Produktion am neuen Standort – Schlüsselübergabe Fabrik 1 mit Michael Federmann, Dr. T. Flade und Dr. W. Berger (v. r. n. l.),
© Archiv FCM
Der Ausbau der FCM zur High-Tech-Firma in der Halbleiterbranche ist die erste Großinvestition eines israelischen Unternehmens in Ostdeutschland. Für seine Verdienste in der Region wird Michael Federmann im Januar 2014 zum Ehrenbürger der Stadt Freiberg ernannt und erhält 2015 den Verdienstorden des Freistaates Sachsen.
FCM ist weltweit führender Hersteller von Verbindungshalbleitersubstraten für die Mikro- und Optoelektronik.
Die Leute hier haben etwas gelernt, was ich nirgends auf der Welt gefunden habe.
Michael Federmann zum Know-how der Freiberger Mitarbeiter
Galliumarsenid-Kristalle und Wafer,
© FCM
Außenaufnahme der Freiberger Compund Materials GmbH,
© FCM

Ausstellung
Verdrängung, Enteignung, Neuanfang:
Familienunternehmen in Ostdeutschland von 1945 bis heute

Die Ausstellung war zu sehen vom 9. September bis 23. Oktober 2020 im Haus des Familienunternehmens,
Pariser Platz 6a, 10117 Berlin.

Die Ausstellung geht auch im Jahr 2024 auf Wanderschaft. Termine und Orte werden hier veröffentlicht:

Vom 11. Juni bis 24. Juli 2024 war sie im Sächsischen Staatsministerium der Finanzen, Carolaplatz 1, 01097 Dresden zu sehen.

Die Ausstellung wurde vom 1. bis 24. Juni 2022 in einer überarbeiteten und erweiterten Fassung im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestags gezeigt.


Sollten Sie Interesse daran haben, die Ausstellung in Ihren Räumlichkeiten zu zeigen, schreiben Sie uns gerne eine E-Mail.
  • Start
  • 1945-1955
  • 1956-1971
  • 1972-1989
  • Ab 1990
  • Kurzchronik
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  • 1972-1989
  • Ab 1990
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Einführung

Was es für eine Volkswirtschaft bedeutet, wenn die oft über Generationen gewachsenen Familienunternehmen verdrängt oder enteignet werden, lässt sich am Beispiel der DDR lernen. Mit der von der SED-Führung initiierten Diskriminierung des Privateigentums, bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung von Unternehmern und schlussendlich der vollständigen Verstaatlichung industrieller Familienunternehmen im Jahr 1972, wurde ein nachhaltiger wirtschaftlicher Schaden angerichtet. Erst nach der friedlichen Revolution der Ostdeutschen vom Herbst 1989 und der Wiederherstellung der Deutschen Einheit im Oktober 1990 konnte mit dem Neuaufbau des Mittelstands in den ostdeutschen Bundesländern begonnen werden. Dabei zeigte sich, dass dies eine Aufgabe ist, die nicht innerhalb weniger Jahre bewältigt werden kann.

Mit der Ausstellung „Verdrängung, Enteignung, Neuanfang: Familienunternehmen in Ostdeutschland von 1945 bis heute“ der Stiftung Familienunternehmen wird diese Thematik einer differenzierten Betrachtung unterzogen. In den Geschichten der vorgestellten Familienunternehmen spiegeln sich die großen gesellschaftspolitischen Umbrüche ebenso wie der beharrliche Gestaltungswille ihrer Eigentümer wider.

Die Ausstellung unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Rainer Karlsch (Institut für Zeitgeschichte München-Berlin) wurde anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der deutschen Einheit am 3. Oktober 2020 konzipiert. Sie beruht unter anderem auf Erkenntnissen aus der wirtschaftshistorischen Studie „Industrielle Familienunternehmen in Ostdeutschland“ von Dr. Rainer Karlsch und PD Dr. Michael Schäfer, die die Stiftung Familienunternehmen zum 30. Jahrestag des Mauerfalls 2019 herausgegeben hat.

Zur Ausstellung können Sie ein ausführliches Begleitheft downloaden oder bestellen.

Zeitzeuge Martin Bach

Privatunternehmer in der DDR vor 1972

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Beginn der Verstaatlichungen

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Der Kaufvertrag

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Die erzwungene Unterschrift

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Direktor im volkseigenen Betrieb

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Der Rückkauf von der Treuhand

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Quelle: Stiftung Haus der Bundesrepublik Deutschland, Zeitzeugenportal www.zeitzeugen-portal.de
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Kontakt

Organisatorische Fragen, Wanderausstellung

Romy Rick
Haus des Familienunternehmens
Pariser Platz 6a
D-10117 Berlin
Telefon: + 49 (0) 30 / 22 60 52 91 0
E-Mail: rick(at)familienunternehmen.de

 

Inhaltliche Fragen

Sibylle Gausing
Stiftung Familienunternehmen
Prinzregentenstraße 50
D-80538 München
Telefon: + 49 (0) 89 / 12 76 40 00 84
E-Mail: gausing(at)familienunternehmen.de

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Kurzchronik der politischen Ereignisse

1945-1955

Oktober 1945

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SMAD-Befehle Nr. 124 und 126
Beginn der tiefgreifenden Umwälzung der Eigentumsverhältnisse und der Wirtschaftsverfassung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Die beiden Befehle der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) ermöglichen die Beschlagnahmung jeglichen Vermögens des Deutschen Reiches, von NSDAP-Mitgliedern und -Organisationen sowie von Personen, die das sowjetische Militärkommando benennt. Sequester-Kommissionen überprüfen die Betriebe, die entweder (A) zur Enteignung vorgesehen, (B) zur Rückgabe an die Eigentümer vorgeschlagen werden oder (C) über deren Zukunft die sowjetische Besatzungsmacht entscheiden soll. Die Einordnung als „Kriegsverbrecher“ oder „Kriegsinteressent“ auf Liste A betrifft in der Praxis alle Großbetriebe und tausende Familienunternehmen. Nach der zunächst nur provisorischen Unterbindung aller Zugriffsrechte der Unternehmer folgt die förmliche Enteignung im April 1948 mit dem SMAD-Befehl Nr. 64.

Dezember 1945

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SMAD-Befehl Nr. 160
Der Befehl bietet die Grundlage für die Strafverfolgung im Fall von „Sabotage und Störungshandlungen“ gegen den wirtschaftlichen Aufbau. Es können Freiheitsstrafen von bis zu 15 Jahren, Einzug des kompletten Vermögens und die Todesstrafe für Wirtschaftsvergehen in besonders schweren Fällen verhängt werden.

1945/46

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Massenhafte Firmenabwanderung
Tausende Familienunternehmen reagieren auf die Demontagen und drohende Enteignung mit der Abwanderung nach Westen. Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hessen profitieren in besonderem Maße vom Zuzug aus dem Osten. Umgekehrt leiden insbesondere Berlin und Sachsen unter der Abwanderung. Der Fortzug hat tiefgreifendere Folgen für die Wirtschaft in der SBZ/DDR als die Kapitalvernichtung durch Krieg und Demontagen.

Juni 1946

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Volksentscheid in Sachsen
Bei dem von der sächsischen KPD beziehungsweise SED initiierten Entscheid votieren 77,56 Prozent der Stimmberechtigten für die entschädigungslose Enteignung von „Kriegs- und Naziverbrechern“.

Juli 1946

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Gründung Sowjetischer Aktiengesellschaften (SAG)
Die Gründung sowjetischer Aktiengesellschaften markiert den Übergang von der Politik der Demontage zur Entnahme von Reparationsleistungen aus der laufenden Produktion. Mehr als 200 der größten Industriebetriebe, die ursprünglich zur Demontage vorgesehen waren, werden in SAGs organisiert. Rund ein Drittel der gesamten Industrieproduktion der SBZ entfällt auf diese Rechtsform.

Juni 1948

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Währungsreform in der SBZ
Der durch die Aufrüstung und die Kriegsfinanzierung entstandene Geldüberhang macht eine Währungsreform erforderlich. Als die westlichen Alliierten mit der Einführung der DM beginnen, verbietet die sowjetische Besatzungsmacht die Zirkulation der DM in der SBZ und veranlasst 33 eine separate Währungsreform: Jeder Einwohner kann 70 „Kupon-Mark“ (mit Spezialkupons beklebte Reichsmarkbanknoten) im Verhältnis 1:1 gegen die alte Reichsmark umtauschen. Alles weitere Bargeld soll auf Konten eingezahlt und im Verhältnis 10:1 umgestellt, also abgewertet werden. Dies gilt auch für das Vermögen privater Betriebe. Die Besatzungsmacht, staatliche Betriebe und Parteien dürfen ihre Konten hingegen 1:1 umstellen. Letztlich bleibt durch die politisch motivierten Sonderregelungen wesentlich mehr Geld im Umlauf als geplant und die „weiche“ Ostmark wird zu einer reinen Binnenwährung.

September 1948

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Wirtschaftsstrafverordnung
Durch die Verordnung können alle Verstöße gegen Anordnungen der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) als Verletzung geltender Gesetze gewertet werden. Darunter fallen auch Tauschgeschäfte bei bewirtschafteten Waren. Gerichte können nun nicht nur hohe Geldbußen sowie Freiheits- bis hin zu Zuchthausstrafen verhängen, sondern auch private Betriebsvermögen einziehen.

Dezember 1948

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Erster großer Schauprozess aufgrund des SMAD-Befehls Nr. 160
Die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle (ZKK) untersteht der DWK und übernimmt Aufgaben, die eigentlich nur der Justiz zustehen. Die ZKK lässt ab Juli 1948 Textilunternehmer aus Glauchau und Meerane (Sachsen) verhaften, obwohl der ihnen zur Last gelegte Tauschhandel von Textilerzeugnissen gegen Rohstoffe und Lebensmittel teilweise von den Behörden und der SED mitgetragen worden war. Um ein Exempel zu statuieren, verhängt das Gericht gegen fünf der elf Angeklagten Todesstrafen (später in Haftstrafen umgewandelt), verurteilt drei Angeklagte zu 15 Jahren und einen weiteren zu zehn Jahren Zuchthaus. Der Prozess dient dazu, „Schieber und Spekulanten“ für die ökonomischen Probleme der im Aufbau befindlichen Planwirtschaft verantwortlich zu machen.

Oktober 1949

Gründung der DDR

Januar 1950

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Gründung der Staatlichen Plankommission (SPK)
Als Stabsorgan der politischen Führungsspitze erstellt die SPK im Rahmen der sozialistischen Zentralplanwirtschaft mehrjährige Perspektivpläne zur langfristigen Wirtschaftslenkung.

Dezember 1950

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Schauprozess gegen die Direktoren der Deutschen Solvay-Werke
wegen angeblicher Misswirtschaft und Wirtschaftsspionage. Das Bernburger Werk der Solvay-Gruppe wird enteignet. Der Prozess bildet den Auftakt, um in der DDR befindliches Auslandseigentum zu verstaatlichen.

1950-52

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Steuerkrieg gegen Familienunternehmen
Seit Anfang der 1950er Jahre überzieht die SED die Privatwirtschaft mit zahllosen Reglementierungen, zum Beispiel in den Bereichen des Steuerrechts, des betrieblichen Rechnungswesens, des Zahlungsverkehrs und der Außenhandelsbeziehungen. Die Einhaltung der Vorschriften, die unter den Bedingungen der Mangelwirtschaft kaum möglich ist, wird von Betriebs- und Steuerprüfern streng überwacht. Der Steuerkrieg gegen Familienunternehmen wirkt in Richtung einer „kalten Sozialisierung”, die Zahl privater Industriebetriebe sinkt innerhalb von zwei Jahren um fast die Hälfte.

Juli 1952

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Beschluss zum Aufbau des Sozialismus
Der Beschluss der 2. SED-Parteikonferenz zielt darauf, die sozialökonomische Umgestaltung in der DDR weiter voranzutreiben. Der Staat erhöht den Druck auf private Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe. Der Ausschluss aus der allgemeinen Kranken- und Sozialversicherung, eine neuerliche Verschärfung der Steuergesetze und der Zwang zum Kauf von Lebensmitteln in den teuren Läden der Handelsorganisation bedeuten eine Existenzbedrohung für viele Familienunternehmer.

Juni 1953

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Volksaufstand
Nach einer erheblichen Verschlechterung der Lebensbedingungen für weite Teile der Bevölkerung versucht die SED-Führung, ihren rigiden Kurs zu korrigieren. Steuerliche Belastungen für Landwirte und private Gewerbetreibende werden reduziert. Weiterhin geltende Normerhöhungen sind der Auslöser für eine sich rasch ausbreitende Streikwelle. Am 17. Juni finden Demonstrationen von rund einer Million Menschen an mehr als 700 Orten in der DDR statt. Der Volksaufstand wird von sowjetischen Truppen niedergeschlagen.
1956-1971

1956

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Betriebe mit staatlicher Beteiligung
Im Januar 1956 beschließt der Ministerrat, Unternehmern eine staatliche Beteiligung anzubieten. Mit der Umwandlung in eine Kommanditgesellschaft wird eine regelmäßige Auftragslage garantiert, es kann jedoch nur noch auf Grundlage behördlich genehmigter Material- und Lieferpläne produziert werden. Da sich nicht genug Unternehmen für eine Umwandlung entscheiden, legt die SPK Mitte 1958 Sozialisierungsquoten fest: 1959 sollen 45 Prozent der Bruttoproduktion privater Industriebetriebe durch Betriebe mit staatlicher Beteiligung erfolgen. Durch die finanzpolitischen Druckmittel des Staates bleibt den Unternehmern, die sich nicht auf die staatliche Beteiligung einlassen wollen, oft nur die Betriebsaufgabe oder die Flucht in den Westen.

1958

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Verkündung der Ökonomischen Hauptaufgabe
Mit ihr wird das Ziel formuliert, Westdeutschland durch die Erhöhung der Arbeitsproduktivität bis 1961 im Pro-Kopf-Verbrauch bei den meisten industriellen Konsumgütern und Lebensmitteln nicht nur einzuholen, sondern zu überholen. Auf diese Weise will 38 die SED die „Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung gegenüber der kapitalistischen Herrschaft“ beweisen.

August 1961

Bau der Mauer

1963

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Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung
Mit dem System wird den Betrieben mehr Eigenverantwortung gegeben und die Planung als Hauptinstrument der wirtschaftlichen Lenkung durch ökonomische Hebel wie Preise, Prämien, Zinsen und Kredite ergänzt. Wichtigste Kennziffer wird der Gewinn. Die Innovationsanreize bleiben aber schwach. Der strukturelle Gegensatz zwischen den dezentralen Elementen und der anhaltenden Planungshoheit der zentralen Instanzen steht dem Ziel entgegen, das Wirtschaftssystem flexibler zu gestalten.

März 1966

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Treffen Walter Ulbrichts mit Komplementären
Der Erste Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED empfängt 50 ausgewählte Unternehmerinnen und Unternehmer zum zehnten Jahrestag der Bildung von Betrieben mit staatlicher Beteiligung. Er sucht ihre Existenzängste zu zerstreuen, indem er der Privatindustrie eine Perspektive bis 1990 in Aussicht stellt.

April 1968

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Neue Verfassung der DDR mit Sozialisierungsvorbehalt
Zwar erkennt die Verfassung die Existenz privater Unternehmen grundsätzlich an und erlaubt die Aufnahme staatlicher Beteiligungen, allerdings geschieht dies unter dem Vorbehalt der Befriedigung „gesellschaftlicher Bedürfnisse“. Artikel 16 sieht die Möglichkeit von Enteignungen auf der Grundlage gesetzlicher Bestimmungen und gegen Entschädigung vor.

Dezember 1970

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Finanzpolitische Beschlüsse zur „kalten Sozialisierung“
Angesichts der offensichtlichen Wirtschaftskrise wird auch die Mittelstandspolitik einer Neubewertung unterzogen. Mithilfe einer Verordnung werden nichttätige Gesellschafter aus den Betrieben mit staatlicher Beteiligung gedrängt und das Einkommen der Komplementäre eingeschränkt. Aus Unternehmen ausscheidende Gesellschafter müssen ihre Anteile an den Staat verkaufen. Viele private Gesellschafter kündigen im Frühjahr 1971 ihre Einlagen.

1971

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Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik
Mit der Strategie reagiert die SED unter der neuen Führung von Erich Honecker auf die Wachstums- und Versorgungskrise. Oberstes Ziel soll es nun sein, bei stabilen Preisen für Grundnahrungsmittel, Kinderbekleidung und Mieten sowie steigenden Löhnen einen kontinuierlich wachsenden Lebensstandard zu garantieren, der wiederum zu steigender Produktivität führen soll.
1972-1989

Februar 1972

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Politbürobeschluss zur Verstaatlichung privater und halbstaatlicher Betriebe
Die SED-Führung beschließt in geheimer Sitzung die Umwandlung der Betriebe mit staatlicher Beteiligung und großer Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) in Volkseigene Betriebe (VEB). Dabei sollen auch Familiennamen in den Firmenbezeichnungen getilgt werden.

Frühjahr 1972

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Zweite Enteignungswelle
Im Frühjahr 1972 erfolgt die Verstaatlichung von rund 11.800 Unternehmen, davon etwa 6.700 Betriebe mit staatlicher Beteiligung, 3.400 private Industrie- und Baubetriebe sowie 1.700 PGH. Der Kaufpreis kommt einer geringen Entschädigung gleich, die Modalitäten für den Verkauf werden aber von der SED-Führung nicht offenbart. Zum Teil wird der Verkauf privater Unternehmensanteile im Rahmen einer Umwandlungskampagne inszeniert.

1980

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Durchgängige Kombinatsbildung
Mit dem Ziel, eine vereinfachte Koordination zwischen den Branchen sowie Synergieeffekte zu schaffen, werden alle Betriebe mit gleichen Erzeugnissen oder zu verarbeitenden Rohstoffen, beziehungsweise mit gekoppelten Fertigungsstufen zusammengefasst. Die Kombinate bilden die gesamte Wertschöpfungskette von der Forschung und Entwicklung bis zum Absatz ab. Mit der Konzentrationswelle wird die Macht des lokalen Parteiapparates sowie der Industrieministerien zugunsten des Handlungsspielraumes der Generaldirektoren der Kombinate begrenzt. Anstelle der angestrebten Flexibilität der Wirtschaft tun sich in Folge der Kombinatsbildung neue Probleme wie Hortungstendenzen und Engpässe auf dem Inlandsmarkt auf.

Oktober 1989

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„Schürer-Papier“
Die „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen“, die nach der Absetzung Honeckers von seinem Nachfolger Egon Krenz angefordert und nach dem letzten Vorsitzenden der SPK Gerhard Schürer benannt wird, zeichnet ein dramatisches Bild von der wirtschaftlichen Lage der DDR: Sie stünde unmittelbar vor der Zahlungsunfähigkeit. Von der Bundesregierung wird das „Schürer-Papier“ als Eingeständnis des wirtschaftlichen Bankrotts der DDR interpretiert. Das angegebene Zahlungsbilanzdefizit von knapp 50 Milliarden Valuta-Mark wurde später auf knapp 20 Milliarden Valuta-Mark korrigiert.

November 1989

Friedliche Revolution und Fall der Mauer am 9. November 1989
Ab 1990

März 1990

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Unternehmensgesetz
erlassen von der Volkskammer der DDR: Es bietet den 1972 enteigneten Unternehmern die Möglichkeit zum Rückerwerb ihrer Betriebe bzw. Anteile. Rund 3.000 Firmen werden bis Oktober 1990 auf dieser Grundlage reprivatisiert.

März 1990

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Gründung der Treuhandanstalt
zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums. Durch die zeitgleich in Kraft tretende Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften wird die Treuhandgesellschaft Inhaberin von mehr als 8.500 Betrieben und 45.000 Betriebsstätten, die sie kontrolliert.

Juni 1990

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Erklärung beider deutschen Regierungen zur Regelung offener Vermögensfragen
Festgelegt wird das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“. Dabei bleiben die zwischen 1945 und 1949 nach Besatzungsrecht erfolgten Enteignungen von der Rückgabe ausgenommen.

Juli 1990

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Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
Die ad-hoc-Einführung der DM vernichtet große Teile des Kapitalstocks der DDR über Nacht und führt innerhalb weniger Monate zum Zusammenbruch der Wirtschaft in Ostdeutschland. Hauptproblem ist das Fehlen weltmarktfähiger Produkte und international bekannter Marken neben den plötzlich gestiegenen Reallöhnen, was den Betrieben ihre Wettbewerbsfähigkeit nimmt.

September 1990

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Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen
erlassen von der Volkskammer der DDR: Es regelt die objektbezogenen Ansprüche bei der Rückübertragung in Fällen der entschädigungslosen Enteignung sowie unter anderem auf Grund der 43 Verstaatlichungswelle von 1972. Jetzt können auch in Westdeutschland ansässige Alteigentümer Reprivatisierungsanträge im Sinne der Wiedergutmachung von Teilungsunrecht stellen. Für die Restitutionsverfahren werden die neu zu schaffenden Landesämter zur Regelung offener Vermögensfragen (LÄRoV) zuständig.

Oktober 1990

Deutsche Einheit

Juli 1991

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Inkrafttreten des Investitionsvorranggesetzes
Demnach erhalten Investoren Vorfahrt vor Alteigentümern. Das heißt, sie müssen nicht abwarten, bis Eigentumsansprüche in den neuen Ländern geklärt sind. Vorrang vor Rückgabe haben nur „echte“ Investitionen, die zukunftsorientierte Arbeitsplätze schaffen oder sichern bzw. die Wettbewerbsfähigkeit verbessern helfen.

Juli 1992

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Zweites Vermögensrechtsänderungsgesetz
Mit dem darin enthaltenen Investitionsvorranggesetz (Art. 5) beginnt sich die „Reprivatisierungsblockade“ zu lösen.

1991-94

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MBO/MBI-Privatisierungen
von der Treuhandanstalt ab 1991 geförderte Modelle: Beim MBO (Management-Buy-out) wird ein Betrieb oder Betriebsteil an dort Beschäftigte, zumeist leitende Angestellte, verkauft. Beim MBI (Management- Buy-in) kauft ein Management-Team, das von außen hinzukommt, den Betrieb. Naturgemäß kommen die Käufer im ersten Fall zumeist aus Ostdeutschland, im zweiten fast immer aus dem Westen. Insgesamt kommt es laut Treuhandanstalt zu etwa 3.000 MBO/MBI-Privatisierungen. Diese tragen maßgeblich zum Aufbau eines neuen Mittelstands in den ostdeutschen Bundesländern bei.

1991-94

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Rückkehrer, Sitzverlegungen und Firmenzusammenschlüsse, Neugründungen
Nach knapp fünf Jahrzehnten der deutschen Teilung gibt es nur für wenige Familienunternehmen wirtschaftliche Gründe zur Rückkehr an ihre Gründungsorte. Verglichen mit der Abwanderung von Ost nach West nach Kriegsende bleibt die Zahl der Rückkehrer nach 1990 begrenzt. Volkswirtschaftlich stärker ins Gewicht fällt die Zahl der Verlegungen von Firmensitzen in die ostdeutschen Bundesländer. Es handelt sich dabei oft um Familienunternehmen mit herausragender regionaler Bedeutung. Neue Firmen entstehen vor allem im Dienstleistungsgewerbe und Handwerk, aber auch im produzierenden Gewerbe.

2010er Jahre

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Allmähliche Reindustrialisierung
Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes der ostdeutschen Bundesländer am gesamtdeutschen Ergebnis steigt von 3,5 Prozent (1992) auf etwa zehn Prozent an. 2015 liegt die Industriedichte in Thüringen über dem gesamtdeutschen Durchschnitt und in Sachsen nur noch knapp darunter (Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe je 1.000 Einwohner: Deutschland insgesamt 82,8 / Thüringen 88,2 / Sachsen 76,9). Die hauptsächlich von Familienunternehmen getragene Reindustrialisierung wirkt sich positiv auf den Arbeitsmarkt aus.

2017

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Unternehmensbestand
in den ostdeutschen Bundesländern: Dieser ist von unter 200.000 im Jahr 1993 auf mehr als 450.000 2017 angestiegen – mit einem Anteil der Familienunternehmen bei über 90 Prozent.
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Radiobericht zum Schauprozess gegen die Textilunternehmer von Glauchau und Meerane - Tag 1

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Radiobericht zum Schauprozess gegen die Textilunternehmer von Glauchau und Meerane - Tag 2

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Radiobericht zum Schauprozess gegen leitender Angestellte der Deutschen Solvay-Werke

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Nachrichtenbericht über Walter Ulbrichts Empfang der Komplementäre ("Aktuelle Kamera")

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Nachrichtenbericht über Walter Ulbrichts Empfang der Komplementäre ("im Blickpunkt")

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